Auszug aus dem Buch: „Tanzende Buchstaben und Zahlenwirrwarr“ von Norma Cleve


Kindern LRS und Rechenschwäche erklären

Joris ist elf Jahre alt und sein Hobby ist das Skaten. Lesen und Rechtschreiben fallen ihm schwer. Tipps wie: „Du musst mehr üben!“ oder: „Du musst dich besser konzentrieren!“ lassen ihn verzweifeln, da er seit langer Zeit erfahren hat, wie seine große Bemühungen ins Leer laufen.
Der neunjährigen Lina, die Tiere und besonders Alpakas liebt, geht es kaum besser, denn sie kämpft täglich mit dem Rechnen.
Irgendwann gehen die Eltern und Lehrkräfte der Sache auf den Grund. Es wird bei Joris eine LRS und bei Lina eine Rechenschwäche diagnostiziert. Endlich haben die besonderen Lernschwierigkeiten einen Namen und es gibt einen Ausweg durch gezielte Unterstützung!
Betroffene, Eltern, Lehrkräfte und Mitschüler erhalten anhand der Geschichten der beiden Kinder einen Einblick in die Lernproblematik. Sie können Verständnis für die Auswirkungen der Teilleistungsstörungen LRS/Legasthenie und Rechenschwäche/Dyskalkulie entwicklen.
Es wird eine Perspektive zur Überwindung aufgezeigt, denn LRS und Rechenschwäche sind kein unabänderliches Schicksal!
Im Anhang finden sich Infos und Adressen mit Hilfsangeboten für Eltern und Lehrkräfte.

zur Autorin:

Norma Cleve ist Diplom-Sozialpädagogin (FH) und als Lerntherapeutin für Lese-Rechtschreibschwäche/LRS und Rechenschwäche/Dyskalkulie tätig. In ihrer Lernpraxis nahe bei Köln arbeitet sie seit vielen Jahren mit betroffenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Widmung der Autorin:

Dieses Buch widme ich Moritz, Amelie und allen anderen, die sich viel mehr anstrengen müssen als ihre gleichaltrigen Mitschüler/innen obwohl sie mindestens genauso schlau sind. Ich bin sicher: Ihr boxt Euch durch und werdet euren Weg machen!

Joris tanzende Buchstaben

Hey, ich bin Joris, 11 Jahre alt. Mein allerbestes Hobby ist das Skaten.
Nach der Schule übe ich am liebsten neue Tricks im Skate-Park. Gerade trainiere ich den Ollie, das ist ein Sprung, bei dem das Skateboard an den Füßen bleibt. Es ist ein cooles Gefühl, wenn ich mit meinem Board in der Luft schwebe!
„Huhu, Joris!“, ruft meine Mutter gerade, als ich mir vorstelle, wie mein bester Kumpel Tom und ich gleich endlich wieder gemeinsam Skateboard fahren.
„Heute wird’s nichts mit dem Skaten, du musst noch deine Deutscharbeit korrigieren!“
„Oh nein!“, denke ich und mache mich wortlos und schlechtgelaunt auf den Weg an meinen Schreibtisch. Ich schlage mein Heft auf und könnte es direkt wieder zuklappen.
„Du musst mehr üben!“, steht unter meiner Arbeit. Ich könnte ausflippen, denn ich habe diese verflixten Lernwörter tagelang trainiert. Sie wollen einfach nicht in meinem Kopf bleiben.
Bald schreiben wir schon den nächsten Test und Mama ist bestimmt wieder enttäuscht. Manchmal streiten wir, wenn ich nicht mehr üben möchte. Danach sind wir beide traurig und frustriert.
In drei Wochen sind Sommerferien. Eigentlich freue ich mich darauf, aber selbst in den Ferien werden mir jedes Mal Abschreibtexte mitgegeben. Ich will nicht mehr! Ich mache ja doch nur Fehler, egal, wie sehr ich mich anstrenge.
Wenn ich daran denke, dass ich morgen in der Schule bestimmt wieder vorlesen muss, bekomm ich schon Bauchschmerzen.
Ich versuche es ja, aber die Buchstaben tanzen vor meinen Augen und ich weiß manchmal nicht mehr, wie der Satz weitergeht.
Die anderen Kinder in meiner Klasse können es viel besser. Was ist nur los mit mir?
„Ich habe dir doch schon tausendmal erklärt, wie man das Wort richtig schreib!“, sagen meine Eltern manchmal.
„Du musst dich besser konzentrieren!“, höre ich von meiner Lehrerin. Aber wie soll ich das nur machen? Ich versuche es ja. Trotzdem fehlen wieder Buchstaben oder ganze Wörter in meinen Texten.
Manchmal schreibe ich ein und dasselbe Wort in meiner Geschichte einmal richtig und dann wieder falsch. Wenn ich mir am Ende alles durchlese, kann ich die Fehler aber nicht finden!
Meine Schrift kann ich an einigen Tagen selbst kaum lesen und die anderen sagen, ich hätte eine richtige „Sauklaue“.
Als ich nach Hause komme und Mama von meinem nächsten vergeigten Deutschtest erzähle, ist sie zu meiner großen Erleichterung gar nicht sauer.
„Hey, lass dich nicht unterkriegen!“, stupst sie mich an. „Ich weiß doch genau, wie viel du geübt hast und sehe, wie sehr du dich anstrengst!“.


Linas Zahlenwirrwarr

Hallo, ich bin Lina, 9 Jahre alt. Ich liebe Tiere!
Besonders gerne mag ich Hunde und seit neustem auch Alpakas.
Letzte Woche ist etwas Aufregendes passiert.
In unserer Nähe, nur ein paar Minuten von unserem Zuhause entfernt, gibt es einen alten Hof.
Er liegt direkt an einem Feld und stand jahrelang leer. Jetzt wurde er renoviert und ihr werdet nicht glauben, was daraus geworden ist: Ein Alpakahof!
Alpakas sind meine absoluten Lieblingstiere.
Jede freie Minute würde ich am liebsten auf dem Hof verbringen.
Die Alpakas sind so lustig und jedes sieht anders aus!
Es gibt nur einen Riesenhaken: Ich habe kaum freie Minuten.
Und wisst ihr, warum? Ich erzähle es euch:
Ich habe ein großes Problem mit dem Rechnen und das vermiest mir so langsam alles. Gestern habe ich einen Mathetest zurückbekommen.
Vorher dachte ich noch: „Dieses Mal klappt es vielleicht besser!“, aber leider habe ich total viel verwechselt und die letzten Aufgaben überhaupt nicht mehr geschafft. Plötzlich war die Zeit schon wieder um.
Nele, die neben mir sitzt, hat mal wieder alles super hinbekommen und mich ganz mitleidig von der Seite angeschaut.
Warum schaffen die das immer alle? Stimmt etwas nicht mit mir?
„Du weißt ja nicht mal, ob es dreiundfünfzig oder fünfunddreißig heißt!“ hat Ole letzte Woche noch laut gelacht, als ich wieder einen „Zahlendreher“ hatte.
Und als Frau Baum, unsere Lehrerin, die Hausaufgaben gestern diktiert hat, habe ich aus Versehen neunzehn statt neunzig aufgeschrieben. Hört sich aber auch fast gleich an!
Aber am allerschlimmsten sind die Sachaufgaben und dass man immer so wenig Zeit bei den Klassenarbeiten hat! Wenn meine Lehrerin sagt: „Noch fünf Minuten“, bekomme ich Panik und es fühlt sich an, als hätte ich Watte im Kopf.
Wenn ich mit meinen Eltern übe, streiten wir uns oft oder es fließen Tränen. „Ich habe es dir doch schon so oft erklärt!“, sagen sie manchmal oder: „Gestern hast du es doch gekonnt!“.
Im Auswendiglernen bin ich eigentlich ganz gut, aber oft vergesse ich trotzdem in Mathe etwas, das ich eine Woche vorher noch wusste.
Die Sachen mit den Uhrzeiten fällt mir auch so schwer.
Woher soll ich wissen, wie lange ein Zug braucht, wenn er um 8.40 Uhr losfährt und um 12.15 Uhr ankommt? Ich kapier’s einfach nicht mit diesen Stunden und Minuten.
Aufgaben mit Euro und Cent sind auch nicht immer ganz leicht. Wie viel Wechselgeld bekomme ich, wenn ich 37,90 Euro plus 4,15 Euro bezahlen soll und einen Fünfzig-Euro-Schein gebe?
Wieviel Cent waren nochmal ein Euro? 60 oder 100? Puh!
Plusrechnen kann ich einigermaßen, aber Minus? Oweia!
Und wenn ich gefragt werde, was die Hälfte von 128 ist, habe ich auch keine Ahnung, wie ich das rausbekommen soll. Warum können die anderen sowas?

Endlich versteht jemand, warum mir das Rechnen so schwer fällt und kann mir helfen, dass es besser wird. Ich will endlich vom Fingerrechnen weg! 
Die Lerntherapeutin erklärt mir, dass wir bei den Grundlagen beginnen.
Erst, wenn ich mir ganz sicher bin und etwas wirklich verstanden habe, geht es weiter zum nächsten Thema.
Wir zerlegen die Zahlen, üben zuerst mit den Einerwürfeln und Zehnerstangen.
Ich kann alles fragen und Fehler machen, ohne dass es mir unangenehm ist.
Die Lerntherapeutin und meine Lehrerin sprechen ab und zu miteinander und schauen, wie sie mich gemeinsam unterstützen können.
Wenn wir etwas Neues durchnehmen, mache ich jetzt vor allem die „Basisaufgaben“, also das Wichtigste des Unterrichtsthemas. Ich bekomme nun Zeit, die Rechenarten Plus, Minus, Mal und Geteilt zuerst ganz sicher im kleinen Zahlenraum zu lernen, damit ich alles verstehen kann, was darauf aufbaut.
In Mathe hängt nämlich irgendwie alles zusammen, das habt ihr bestimmt auch schon gemerkt!
In der Klasse wird besprochen, warum ich solche Schwierigkeiten habe und das es überhaupt nichts damit zu tun hat, dass ich nicht so schlau wie die anderen bin.
Wenn wir eine Arbeit schreiben, geht Frau Baum sicher, dass ich die Aufgabenstellung verstanden habe. Außerdem haben wir uns auf einen Trick geeinigt, der mir den Druck etwas nimmt und mir hilft, den Überblick zu behalten:
Wir knicken das Aufgabenblatt in der Mitte und ich sehe und bearbeit zuerst nur die wichtigen Basisaufgaben.
Wenn ich dann noch Zeit habe, klappe ich das Blatt auf und versuche, ob ich auf der linken Seite noch Aufgaben ausrechnen kann.
Langsam wird alles leichter. Ich bin zwar immer noch nicht so schnell wie viele Mädchen und Jungen in meiner Klasse, aber ich hole auf und merke, dass ich manche Dinge schon richtig gut kann.
Es macht mir wieder Spaß, in die Schule zu gehen und Bauchschmerzen vor der Mathestunde habe ich auch nicht mehr.

„Tanzende Buchstaben und Zahlenwirrwarr – Joris und Lina überwinden LRS und Rechenschwäche“
ISBN-Nr.: 9789403669045